Pflege dein inneres Kind und erfreue dich daran.
Man muss nur wollen von Bettina Bonkas
„Au!“, schrie Jan-Oliver. „Das hat wehgetan!“
„Sind Sie ein Mädchen oder ein Mann?“, fragte ihn Mariucca.
„Das hat doch damit nichts zu tun. Sie sind manchmal einfach zu grob.“
„Das haben Sie beim letzten Mal auch gesagt und es hat gutgetan Ihnen. Sie werden sehen, Sie werden aufstehen und sich fühlen wie neu“, bemerkte Mariucca ungerührt und machte unverdrossen weiter. „Außerdem, es ist nicht meine Schuld, wenn Sie sind so verspannt. Sie müssen nicht so viel arbeiten. Sie arbeiten, sind verspannt, arbeiten, sind verspannt und zwischendurch ich Sie massiere und versuche zu helfen, was zu helfen geht.“
Jan-Oliver seufzte. Mariucca hatte recht. Beim letzten Mal tat es ihm auch weh, nach ihrer Massage fühlte er sich aber deutlich besser. Sie würde wohl nie verstehen, dass ein verantwortungsvoller Job auch einen hohen Einsatz erforderlich machte. „Ich weiß, Sie jetzt denken, dass ich nicht verstehe, warum Sie so viel arbeiten.“ Jan-Oliver schaute sie verblüfft an und wollte etwas erwidern, aber Mariucca war schon am Weiterreden. „Machen Sie wenigstens immer wieder ein paar Übungen, um zu strecken den Rücken und Brust weit machen.“ Und sie machte ihm ein paar Übungen vor. „Das wird Ihren Körper entspannen und Sie auch. Denken Sie daran!“ Und mit diesen Worten stapfte sie davon.
Nach der Massage ging Jan-Oliver in sein Arbeitszimmer, um weiterzuarbeiten. Er hörte im Hintergrund, wie Mariucca in der Küche aufräumte, aber bald war er so vertieft in seine Arbeit, dass er sie vergessen hatte. Tatsächlich aber dachte er an ihre Worte und machte zwischendurch immer wieder ein paar Übungen, um seine Rücken- und Schulterpartie zu entspannen.
Ihm fiel erst gar nicht auf, dass er Mariucca nicht mehr hörte, eine Weile schon nicht mehr, wie ihm bewusst wurde. Er rief wiederholt ihren Namen und schaute in der Wohnung nach ihr. Er und Kerstin bewohnten die beiden oberen Etagen einer Penthouse-Wohnung direkt am Westhafen in Frankfurt. 150 qm besaßen sie und zwei große Balkons, einen zur Südseite, den anderen zum Westen. Sie hatten auf ihren Balkons große Blumenkübel und gemütliche Lounge Sitzgruppen. Vielleicht war sie dort zum Saubermachen. Aber auch dort konnte Jan-Oliver sie nicht finden, was nicht wirklich verwunderlich war, es war Winter. In der Küche sah er schließlich ihre Tasche. Komisch! Das war doch gar nicht ihre Art, irgendwo stillschweigend in der Wohnung zu reinigen. Entweder sang sie vor sich hin oder war am Telefonieren mit Plug-ins. Jan-Oliver konnte sich seine Unruhe auch nicht erklären, aber ihre Abwesenheit verunsicherte ihn. Er wollte sie gerade auf ihrem Handy anrufen, als die Lifttür zur Wohnung aufging und Mariucca mit einem schweren Karton hineinkam.
„Helfen Sie mir!“.
Schnell nahm ihr Jan-Oliver den schweren Karton ab. „Was haben Sie denn da hochgetragen?“ Er war erstaunt.
Mariucca strahlte übers ganze Gesicht. „Das habe ich gefunden im Keller. Es ist eine elektrische Eisenbahn. Unten Sie haben eine riesengroße Platte mit Gleisen und Landschaft. Ich habe einen Teil hochgetragen.“
Jan-Oliver staunte: seine Eisenbahn. Wie lange schon hatte er schon nicht mehr damit gespielt. Aber dann fielen ihm wieder Kerstins Worte ein. „Das ist nett, Mariucca, aber Kerstin meint, dass wir dafür keinen Platz haben. Ich solle sie lieber einem Kind schenken, das mehr damit anfangen kann, ich sei schon zu alt dafür.“
„Papalapap. Für eine Eisenbahn man nie ist zu alt. Und wenn Sie wollen die Eisenbahn, dann Sie mit den Fingern auf Tisch hauen müssen.“
„Mit der Hand auf den Tisch hauen“, verbesserte sie Jan-Oliver automatisch. Sie schaute ihn nur ungerührt an.
„Wenn man etwas möchte im Leben, man muss kämpfen dafür. Und die Eisenbahn Ihnen würde guttun. Sie sind viel zu ernst, Sie brauchen mehr vom Kind. Mehr Spielen ist guter Vorsatz für Sie fürs nächste Jahr.“
Beim Anblick der Eisenbahn bemerkte Jan-Oliver sofort, wie der kleine Junge in ihm zum Vorschein kam. Er hatte große Lust, die Eisenbahn auszupacken, Landschaften zu bauen und die Bahn durchfahren zu lassen. Schon als Junge hatte er viel an seiner Eisenbahn gebaut. Wenn sich seine Eltern stritten, ließ er seine Bahn fahren und konnte bei dem gleichförmigen Fahrgeräusch völlig abschalten. Er spürte, wie er zunehmend aufgeregter wurde und immer stärker die Lust aufkam, wieder seine Bahn zu aktivieren. Aber Kerstin würde gar nicht begeistert sein. Das wäre dann kein Stehrümchen, sondern ein ausgewachsener Stehrummer.
Mariucca schien seinen inneren Kampf zu bemerken. Es war manchmal richtig unheimlich, was sie alles wahrnahm. „Wo ist Frau Hagebeck?“, fragte sie ihn.
„Kerstin ist in China. Sie wird am Freitag wieder zurückkommen.“ Kerstin war viel auf Geschäftsreisen, das brachte ihr neuer Job mit sich. Jan-Oliver war nicht glücklich darüber, aber er wollte ihrer Karriere nicht im Weg stehen, er wusste wie wichtig ihre Geschäftsreisen dafür waren. Ihm war sein Job ja auch wichtig und wenn er etwas Dringendes fertigstellen musste und keine Zeit hatte, war es Kerstin, die seine Eltern besuchte.
„Dann bauen Sie auf bis dahin die Bahn und sehen Sie, wie gut sie Ihnen tut. Das kann ich jetzt schon sehen. Meine Mutter hat immer gesagt: Sei gut zu Kind in dir. Wenn Frau Hagebeck zurückkommt, Sie sind Mann im Haus, haben an Hosen und sagen: Die Bahn bleibt hier. Oben in Wohnung! So, jetzt habe ich gemacht Überstunden. Das macht 50,– € für heute.“ Jan-Oliver gab ihr das Geld, verabschiedete sich von Mariucca und setzte sich zu seiner Bahn.
Ach, bei Mariucca hörte sich alles so einfach an. Aber vielleicht war es das auch? Spontan holte er nach und nach seine Eisenbahn aus dem Keller, baute sie bis tief in die Nacht auf und saß schließlich, nach getaner Arbeit, erschöpft, aber hoch zufrieden mit einem Glas Whiskey in seinem Charles and Ray Eames Lounge Chair vor seiner Eisenbahn. Er hatte nur die Beleuchtung von der Bahn an, dazu lief Queen mit „I was born to love you“ und seine Bahn schnurrte zufrieden auf ihren Gleisen. „… I was born to take care of you, every single day …“. (Ich wurde geboren, auf dich aufzupassen, jeden einzelnen Tag …)
I was born to love you
with every single beat of my heart
yes, I was born to take care of you
every single day…
I was born to love you
…
Ich wurde geboren, dich zu lieben
mit jedem einzelnen Herzschlag
ja, ich wurde geboren, auf dich aufzupassen
jeden einzelnen Tag …
Ich wurde geboren, dich zu lieben
…
Ein zufriedenes und gesundes neues Jahr. Ich wünsche Ihnen, dass Sie mit Freude, Leichtigkeit, Offenheit und Vertrauen sowie Ihren persönlichen Wünschen durchs neue Jahr gehen. Und pflegen Sie Ihr inneres Kind :-).