April: Abschied nehmen

Auch wenn Abschiede unsagbar schmerzhaft sind, begleitet sie auch etwas Liebevolles , das wir, im Moment unserer größten Verletzbarkeit, als ungemein wohltuend und tröstend empfinden wenn wir es schaffen, es zuzulassen.

Abschied (Teil II) von Bettina Bonkas

Geschichte in zwei Teilen. 2. Teil:

„Als Oma wieder im Krankenhaus lag, rief sie mich in England an.  Das hatte sie vorher nie gemacht. Sie teilte mir mit, dass die Ärzte herausgefunden hatten, woher ihre Rückenschmerzen kamen. Sie hatte Krebs in einer Rippe. Knochenkrebs. Seit diesem Tag war sie verändert. Sie war liebevoll, ich konnte das bereits am Telefon spüren und ich gewann sie total lieb. Ich beschloss, meine Zeit in England zu unterbrechen und in Deutschland zu jobben. Häufig ging ich Oma besuchen und unser Verhältnis wurde immer enger. Dann kam jene Woche, in der alles ganz schnell ging. Am Montag sagte ihr der Arzt, dass sie austherapiert sei, ein paar Tage später, am Donnerstag, hatten ihre Söhne zusammen mit Oma ein Gespräch mit ihm. Da teilte er ihnen mit, dass wir zügig nach einem Hospizplatz suchen sollten. Oma habe nur noch wenige Wochen zu leben.

Das war ein echter Schlag und irgendwie haben wir das gar nicht ganz richtig kapiert. Erst am darauffolgenden Montag telefonierte ich Hospize ab. Obwohl ich arbeiten musste, nahm ich mir viel Zeit dafür, das war ein Dienst für Oma. Ich telefonierte täglich mit Oma und mir wurde bewusst, dass ich es nicht mehr aus Pflichtbewusstsein machte, sondern aus Liebe. Sie bedankte sich jedes Mal für meinen Anruf. Das hat mich sehr berührt.“

Lara schluckte kurz, bevor sie weitersprach. „Jeden Tag ging es ein bisschen schlechter. Oma aß mittlerweile fast gar nichts mehr. Sie trank nur noch diese Fresenius Drinks, aber von diesen trank sie auch nur noch zwei am Tag und schließlich auch diese nicht mehr. Es tat sehr weh zu sehen, wie meine Oma, die immer eine Kräftige war, vor unseren Augen verschwand. Erst konnte man es monatlich sehen, dann wöchentlich und nun täglich. Sie wurde immer schwächer und ihr Stomabeutel quälte sie sehr. Er lief häufiger aus, denn sie war zu dünn geworden und jetzt auch noch zu schwach, die Schweinerei wegzumachen. Das war sehr schlimm für meine immer so saubere Oma. Haben Sie mal gesehen, Sie sah noch im Alter wie ein Model aus.“ Lara lächelte.

„Der Pflegedienst war toll, aber sie hatten natürlich auch nicht unbegrenzt Zeit. Das Palliativteam versuchte ihre Schmerzen zu lindern, aber gegen Schwäche gibt es kein Mittel. Meine Oma, die immer so stolz auf ihre Selbstständigkeit war, wurde immer abhängiger. Na ja, und dann kam sie ja letzte Woche zu Ihnen. Papa und sein Bruder waren dann jeden Tag bei ihr. Es war so intensiv. Ich glaube, Oma war so glücklich, dass ihre Söhne sie während ihrer Krankheit so liebevoll begleiteten. Zum anderen Sohn war das Verhältnis auch nicht immer gut und Papa ist ja selbst angeschlagen mit seinem Erschöpfungssyndrom. In der letzten Woche waren es dann nur noch Oma und ihre Sohne. So schwach Oma war, sie hat sogar noch mit ihnen gescherzt und ihnen gedroht Blitz und Donner zu schicken, sollten sie miteinander streiten. Ich freue mich so sehr, dass wir zueinander gefunden haben. Es war wie in einem Kitschfilm: Papa und sein Bruder verstehen sich jetzt wieder besser, beide waren für ihre Mama voll da und zum Schluss gab es das große Happy End, alle waren in ganz tiefer Liebe miteinander verbunden. Es war so intensiv. Ein Kitschfilm  hätte nicht besser sein können.

„Ich habe Ihre Oma als eine sehr selbstbestimmte Frau kennengelernt, die selbst – schwerkrank wie sie war – genau wusste, was sie wollte und was nicht. Sie wirkte dabei immer sehr stolz und hatte Präsenz. Ja, es ging alles sehr schnell, aber das spricht für mich auch dafür, dass Sie als Familie alles ganz richtig gemacht haben. Sie haben zueinander gefunden und Ihre Oma mit viel Liebe verabschiedet. Sie konnte in Ruhe und, ganz wichtig, mit Liebe gehen. Ich glaube nicht, dass sie, geschwächt, wie sie war, hätte weiterleben wollen. Und ich glaube auch, dass Sie ihr viel mehr gegeben haben, als Sie es sich vorstellen können.“

„Warum bekamen wir keine zweite Chance wie bei Opa oder Omi damals? Warum musste alles so schnell gehen? Nur sieben Monate!“

Lara schluchzte heftig. Die Schwester streichelte sanft ihren Rücken. Sie schwieg eine kleine Weile, bevor sie auf Laras Worte einging.

Lara lächelte sie unter Tränen an. Sie ging später noch einmal in das Zimmer ihrer Oma und jetzt spürte sie, warum sie ihre Oma nicht hatte anfassen wollen: Das war ihre Oma nicht mehr. Das war nur noch ihre körperliche Hülle, wie bei ihrem Opa damals, als sie ihn eine Woche nach seinem  Tod nochmals gesehen hatte. Ihre Oma hatte ganz schnell ihren kranken Körper verlassen. Das war typisch für sie, entscheidungsfreudig war sie schon zu Lebezeiten. Ruhig verließ Lara das Zimmer ihrer Oma. Sie beschloss, nicht auf ihre Eltern zu warten, sie würden noch mindestens eine dreiviertel Stunde brauchen. Sie würde später zu ihnen nach Hause fahren. Jetzt brauchte sie Zeit für sich alleine.

Nach einem Tag der Erleichterung – ihre Oma litt keine Schmerzen mehr und die große Anspannung der letzten Monate hatte ein Ende gefunden – erlebte sie ein paar intensive Tage. Ihre Gefühle hatten eine fast nie gekannte Intensität. Leere erfüllte sie, das Ziel der letzten Monate war plötzlich weg. Außerdem überkamen sie Schuldgefühle: „Hätte sie Oma nicht viel früher die Hand reichen sollen? Sie hatte auch gar nicht richtig zu schätzen gewusst, wie Oma mit ihrer kleinen Rente ihr gegenüber immer wieder so großzügig war: Nur 3,– bis 4,– € hatte sie am Tag für Essen.“ Tiefe Demut überkam sie, aber auch Scham und Selbstvorwürfe. Lara wusste nicht, was mit ihr los war, ihre Gefühle waren so intensiv. Dann kamen ihr wieder die Worte der Schwester in den Sinn und sie wurde ruhiger.

Intuitiv begann sie, mit ihrer Oma zu sprechen. Die Zeit des Grolls schien nicht mehr wichtig zu sein. Lara wurde bewusst, dass der Tod einen klaren Blick auf das lenkte, was wirklich wichtig war im Leben. Was zählte, war nur noch die gegenseitige Liebe, die sie verband. Und Lara spürte ihre Oma mit einer intensiven Liebe und Wärme in ihrem Alltag. Ihr wurde auch bewusst, wie Oma durch sie hindurchschien: Sie hatte Omas Sinn und ihr Auge für das Schöne. Gleichzeitig nahm sie wahr, wie die Liebe, für die sie noch im August gebetet hatte, aus ihr einen liebevolleren Menschen gemacht hatte. Bewusst hatte sie auch immer wieder Körperübungen gemacht und ihren Brustbereich geweitet, insbesondere dann, wenn sie gespürt hatte, dass sie sich eng machte: körperlich als auch geistig. Sie war überwältigt von dem, was sie in ihrem Inneren spürte – es fühlte sich richtig gut an. Sie hoffte sehr, dass sie sich das bewahren könnte, auch im Alltag.

Lara hatte Wichtiges für ihr Leben gelernt: Bei allem Traurigen ist immer auch etwas Schönes dabei, ohne Schatten kein Licht. Ja, ihr Verhältnis hätte schon früher besser sein können, aber manche Verletzungen sind groß. Verzeihen zu können ist wohltuend für den, der verzeiht. Aber auch der Verzeihende ist meistens nicht frei von Schuld. Und so war sie sehr dankbar für die wunderschöne Wendung und dafür, dass sie das alles noch erleben durften, alle zusammen. Wie traurig wäre ein Abschied im Bösen oder gar kein Abschied gewesen?

Mit einer neuen Entschlossenheit entschied sie sich, Innenarchitektur zu studieren. Das Leben erschien ihr jetzt viel einfacher und klarer. Passend zu Ostern wurde Lara bewusst, wie etwas Neues entstand. Sie freute sich schon darauf, ihre Pläne mit ihren  Eltern zu besprechen.

Bettina Bonkas, Coaching + Training | Im Ärmchen 3, D-61273 Wehrheim im Taunus | Contact | Impressum | Data Protection | Datenschutz Cookie-Settings | Cookie-Einstellungen