Unsere innere Haltung (Mindset) zeigt sich in unserer körperlichen Haltung (Embodiment).
Eine besondere Begegnung von Bettina Bonkas
„Guck mal, Mama, da ist ein Eichhörnchen.“ Ada deutete aufgeregt auf eine kleine braune Gestalt, die sie wachsam beobachtete.
„Ja, ich habe es gesehen. Wenn du still bist, kannst du es eine Weile beobachten.“ Während Mel ihrer Tochter antwortete, war sie in Gedanken bei der Arbeit und las eine Nachricht auf ihrem Smartphone.
Und so blieb Ada still stehen, während Mel weiterlief in einen Mann hinein. Der ältere Herr schaute sie freundlich an, dann packte er sie behutsam mit beiden Händen an den Oberarmen, richtete sie auf und hielt sie einen Augenblick fest gehalten.
„Unsere innere Haltung zeigt sich in unserer äußeren. Ich habe mir erlaubt, Sie ein wenig aufzurichten. Ein frohes neues Jahr wünsche ich Ihnen beiden.“ Freundlich lächelnd ging er weiter.
„Eigentlich ist das jetzt total übergriffig“, dachte Mel, aber irgendwie fühlte es sich auch richtig gut an, irgendwie Halt-gebend. Sie lächelte in sich hinein.
Am nächsten Tag schon war Mel in ihrem üblichen Stressmuster. Sie war in einem Gespräch mit ihrer Vorgesetzten.
„Mel, wir müssen was für die Mitarbeiter machen. Wir haben zu viele Krankheitsausfälle, Burnout nimmt zu. Ich möchte, dass du Resilienz-Trainings für die Mitarbeiter organisierst, damit sie besser mit dem zunehmenden Druck zurechtkommen und belastbarer werden.“
„Peggy, ich bin ganz bei dir, dass wir was machen müssen, aber wie du das ausdrückst hört sich das so an, dass wir das nicht für die Mitarbeiter machen, sondern nur dafür, dass sie belastbarer werden und damit produktiver sind.“
„Natürlich geht es um Produktivität, Mel. Sei nicht naiv. Wir sind ein Unternehmen und müssen Geld verdienen. Im Übrigen profitieren die Mitarbeiter auch privat davon, wenn sie sich verändern: Resilienz bringt ihnen in allen Lebensbereichen etwas. Übrigens, ich habe schon einen Anbieter ausgesucht. Kontaktierst du ihn bitte und organisierst die Trainings?“
„Du hast schon jemanden ausgesucht? Normalerweise besprechen wir das im Vorfeld und ich suche dann jemanden aus und stimme es mit dir ab.“ Mel war verletzt, ihre Mundwinkel fielen nach unten.
„Sei nicht kleinlich, Mel. Ich musste eine schnelle Entscheidung treffen. Du wirst sehen, der Anbieter ist gut. Innerhalb von einem Tag vermitteln sie die Techniken der Resilienz. Hier sind die Unterlagen. Wenn du Fragen hast, können wir zu einem späteren Zeitpunkt weiterreden, ich habe jetzt gleich eine Besprechung.“ Sie reichte Mel die Unterlagen und verließ den Raum.
Mel was nicht nur verletzt, sie war auch sauer. Wahrscheinlich war das so ein Anbieter, der ein paar Techniken vermittelte, ohne die Teilnehmer wirklich mitzunehmen. Und das musste sie jetzt organisieren und als ein Goodie für ihre Kollegen verkaufen. Mel war frustriert. Sie ballte ihre Hände und starrte auf ihren Laptop.
Und so gingen die nächsten Wochen weiter. Es war Mel peinlich, sich einzugestehen, aber sie freute sich auf Februar, wenn Ada zu Marc gehen würde. Marc, ihre große Liebe, die leider nicht gehalten hatte, geblieben war aber ihr Kontakt. Mel konnte sich keinen besseren Vater für Ada vorstellen, wann immer es ihm möglich war, holte er sie zu sich. Nur leider wohnte er jetzt in Berlin und damit 557 km von ihnen entfernt. Mel liebte ihren kleinen Engel über alle Maßen und sie wusste schon jetzt, dass sie Ada vermissen würde. Gleichzeitig war sie aber auch froh, dass sie Zeit für sich haben würde, und Ruhe.
In der freien Zeit ohne Ada traf Mel Freundinnen, die sie seit längerer Zeit nicht mehr gesehen hatte. Sie gingen zusammen Einkaufen oder Essen und das Herrliche war, das Mel nicht auf die Uhr schauen musste, sondern die Zeit einfach nur genießen konnte. Am Samstagabend ging Mel zu einer Veranstaltung in der Kirche: Lesungen aus der Bibel und Chorgesang. Es war wunderschön und Mel hing ihren Gedanken nach. Als sie bei der letzten Lesung aufblickte, sah sie ihn: der Mann, in den sie hineingelaufen war und der sie so wohltuend aufgerichtet hatte, im wörtlichen und übertragenen Sinne. Sie wartete draußen am Ausgang auf ihn.
„Hallo, Sie werden sich nicht mehr an mich erinnern können“, begann sie ihre Unterhaltung.
„Doch kann ich.“ Er hatte wieder dieses gütige Lächeln.
Mel zögerte kurz, dann sagte sie spontan. „Unsere kurze Begegnung hat mir sehr gut getan. Leider nur hielt das nicht lange an.“ Sie lächelte.
„Ja, wir müssen uns immer wieder daran erinnern, uns aufzurichten, mit unserem Geist und unserem Körper.“
Mel merkte, wie sie automatisch in eine gerade Haltung ging und ihre Schultern weit machte. „Sie haben etwas sehr Positives. Sind Sie Pfarrer?“
„Nein, ganz und gar nicht.“ Er lachte. „Aber mein Glaube gibt mir sehr viel.“
„Ich habe das gedacht, weil Sie etwas so Gütiges und Freundliches ausstrahlen und dann sah ich Sie jetzt hier in der Kirche.“
„Dankeschön, meine Liebe. Das ist ein sehr schönes Kompliment. Ich habe eine Personalabteilung geleitet, da hatte ich viel mit Menschen zu tun: mit Schönem und weniger Erfreulichem. Da sollte man sich für Menschen interessieren.“
Dieser Unterhaltung folgten viele weitere und Mel lernte viel von Helmut Kreutzer. Seine „innere Gelassenheit“, mit der er auf eine gesunde Distanz zum gesellschaftlichen Mainstream ging, beeindruckte sie. Als besonders wohltuend empfand sie jedoch, dass er sie so nahm, wie sie war: Er versuchte nicht, sie zu verändern, sie gelassener und entspannter zu machen. Er sprach vielmehr von Verwandlung.
„Die heutige Erwartungshaltung, sich ständig zu verändern und zu perfektionieren, erzeugt in meinen Augen oft nur unnötigen Druck. Das suggeriert, dass ich so, wie ich bin, nicht gut genug bin, dass ich bin noch nicht der bin, der ich meinem Wesen nach sein sollte. Ich gebe heute Management-Seminare. Es ist mir sehr wichtig, dass in meinen Seminaren jeder sein darf, wie er ist.“
Wie Kinder auch, lernen wir am besten vom Vorbild. Kinder haben ein ganz feines Gespür dafür, ob jemand authentisch ist und auch lebt, was er sagt. Helmut Kreutzer war so ein Mann: Er lebte, was er sagte. Sie lernte viel vom ihm, bewusst und unbewusst.
Mel genoss den herrlichen Wintertag im Park mit Ada. Die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel, der Reif glitzerte auf den Bäumen und die Vögel pickten an den aufgehängten Meisenknödeln. Mel machte gerade ein Foto von der spielenden Ada, als eine junge Frau in sie hineinlief. Die Frau wirkte gestresst. Mel schaute sie freundlich an, dann packte sie sie behutsam mit beiden Händen an den Oberarmen, richtete sie auf und hielt sie einen Augenblick fest gehalten.
„Unsere innere Haltung zeigt sich in unserer äußeren. Ich habe mir erlaubt, Sie ein wenig aufzurichten. Ein frohes neues Jahr wünsche ich Ihnen.“ Freundlich lächelnd ging Mel weiter.