Nimm dir Zeit für das Schöne und genieße die Magie dieser Zeit
Das Licht von Bettina Bonkas
Angespannt saß Steph vor dem Computer. Schnell noch die letzten Eingaben, bevor sie zur Bahn hetzen würde. Sie war schon wieder richtig spät dran, aber diesen einen Satz musste sie noch unbedingt fertig tippen. Perfekt! Jetzt noch speichern und dann würde sie den ganzen Weg zur Bahn joggen. Nicht gerade das, worauf sie jetzt Lust hatte, aber wie sagte ihre beste Freundin Maja immer so schön: „Du musst mehr Sport treiben, meine Süße!“ 10 Minuten zur Bahn joggen kam Sportmachen gleich, das musste genügen.
Steph wechselte schnell in ihre Winterschuhe, schnappte sich ihre Tasche und rannte zur S-Bahn. Diese kam schon eingefahren, als sie zum Bahnsteig kam. Schnell noch die Treppen hoch sprinten und rein in die Bahn. Sie quetschte sich zu den Massen von Bahnreisenden, aber das war ihr egal, Hauptsache, sie hatte den Zug bekommen. Ansonsten hätte sie eine dreiviertel Stunde auf ihren Anschlusszug warten müssen, nicht gerade ein Vergnügen bei der Kälte und auf dem zugigen Bahnsteig. Die Bahn fuhr an, als ihr einfiel, dass sie ja ihre Mutter besuchen wollte. Dazu hätte sie in eine andere Bahn einsteigen müssen. Ständig diese blöde Hetzerei, da gingen immer wieder Dinge unter. Schöner Mist! Der Besuch bei ihrer Mutter war schon längst überfällig.
Sie war eine reizende ältere Dame, die bewundernswert ihren Alltag mit 87 Jahren stemmte. Von ihren Freunden hörte sie da ganz andere Mütter-Storys: von Erwartungshaltungen, indirekten Vorwürfen – bloß nicht Dinge direkt beim Namen nennen, Beleidigtsein und weiß der Geier noch was alles. Grauselig! Steph war froh um ihre Mama. Klar stritten die beiden sich auch, aber auf ihre Mutter ließ Steph nichts kommen. Vielleicht hatten die beiden auch so eine enge Beziehung, weil ihr Vater die Familie schon früh verlassen hatte.
Am Anfang, als Steph noch klein war, hatte sie ihn immer wieder gesehen und er hatte viel Zeit mit ihr verbracht, aber schließlich hatte er eine neue Familie gegründet und seine Tochter aus der ersten Beziehung nach und nach aus seinem Leben verbannt. Das tat richtig weh, verdammt weh sogar, aber sie hatte gelernt, damit zu leben und heute vermisste sie ihren Vater nicht mehr. Hey, warum hatte sie jetzt solche blöden Gedanken? Ach stimmt, Auslöser war die falsche Bahn. Aber vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass sie jetzt nach Hause fuhr, denn es fing an zu schneien und da kam der Bahnverkehr erfahrungsgemäß sowieso zum Erliegen. Sie würde ihre Mama später anrufen und einen anderen Tag vereinbaren.
Noch zwei Haltestelle, dann konnte sie endlich aussteigen und in ihre Bahn nach Hause wechseln. Diese würde zum Glück leerer sein. An der Haltestelle wurde Steph zusammen mit den anderen Reisenden aus der Bahn gespült und zusammen mit den anderen Reisenden lief sie die Treppe hinunter. Sie lief die Unterführung entlang und die Treppe wieder hoch zum anderen Bahngleis. In 15 Minuten würde ihre Bahn kommen, noch genügend Zeit, sich schnell einen wärmenden Cappuccino zu holen. Sie ließ sich ihren Coffee to go Becher befüllen und lief zurück zum Bahnsteig. Ihr Zug fuhr mit 7 Minuten Verspätung ein. Dankbar ließ sich Steph in einen Sitz fallen. Eigentlich hätte sie alles darum gegeben, jetzt einfach nur ihre Augen zu schließen und zu dösen, aber sie musste unbedingt noch ein paar Mails durchgehen. Sie klappte ihren Laptop auf und fing an zu lesen.
Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab, sie hatte Probleme sich zu konzentrieren. Irgendwie, schleichend, war alles immer mehr geworden: die Arbeit, die Verantwortung für Mama, auch wenn diese für ihr Alter noch sehr fit war, so sah und hörte sie doch sehr schlecht und konnte Briefe nicht mehr alleine lesen, geschweige denn selbst schreiben. Ja, und dann war da natürlich auch noch die Verantwortung für Yanik, ihren Sohn. Auch wenn er schon 17 Jahre alt war und übernächstes Jahr sein Abi machen würde, so brauchte er sie natürlich, auch jetzt noch. Noch immer war er sich nicht darüber im Klaren, was er nach der Schule machen wollte. Ihre Mutter sah das entspannt, aber Steph machte sich so ihre Sorgen. Eine gute Ausbildung, am besten in Form eines Studiums war heutzutage wichtiger denn je. Sie würde ihn zu Hause daran erinnern, schnellstmöglich einen Termin für ein Beratungsgespräch bei der Agentur für Arbeit auszumachen. Von seinem Vater war Steph schon lange getrennt, da war Yanik noch im Kindergarten. Ralph und sie teilten sich beide das Sorgerecht und es funktionierte in den meisten Fällen angenehm problemlos.
Wenn sie jetzt so an Ralph dachte, fiel ihr auf, dass er in der letzten Zeit etwas blass und unkonzentriert wirkte; sie hoffte, dass alles in Ordnung mit ihm war. Auch wenn sie schon lange getrennt waren, verband beide doch noch eine sehr freundschaftliche Beziehung und Steph erinnerte sich noch sehr lebhaft daran, wie seine Krebserkrankung vor fünf Jahren sie belastet hatte. Wenn sie sich richtig erinnerte, hatte er damals ähnliche Symptome: Blässe, Müdigkeit, fehlende Konzentration. Sie würde ihn bitten, schnellstmöglich zum Arzt zu gehen. Ach, immer gab es irgendetwas worüber sie sich Gedanken machte. Hörte das denn nie auf? Im Gegenteil, es schien immer nur schlimmer zu werden und sie fand es zunehmend schwieriger zu entspannen. Steph merkte, wie ihre Gedanken immer trüber wurden.
Ihr Blick schweifte ab, sie schaute gedankenverloren in den verschneiten Winterwald. Früher, als Kind, ging sie gerne mit ihrem Vater im Wald spazieren. Er erzählte ihr dann immer Geschichten und sie war lange fest davon überzeugt, dass im Wald Feen, Elfen und Wichtel lebten. Als Kind hatte sie sich immer vorgestellt, dass sie im Winter in Bauten unter der Erde wohnten, die sie sich gemütlich eingerichtet hatten mit Fellen als Kuschelzonen, mit Hölzern aus dem Wald, aus denen sie Sitzgelegenheiten und Tische zimmerten und Tannenzapfen, Nüsse und Wurzeln, mit denen sie wunderschöne Dekorationen zauberten.
„Können Sie sie auch sehen?“ hörte sie plötzlich eine Stimme fragen. Im Nu war Steph wieder mit ihren Gedanken in der Bahn. Sie drehte sich zur Seite und sah einen Mann, der sie direkt ansah. Er war vielleicht um die vierzig, hatte blonde längere Haare, die seitlich aus seiner braunen Wollmütze hervorschauten, einen Bart, so eine Mischung aus Voll- und keinem Vollbart, grüne Augen, Lachfalten und einen freundlichen Gesichtsausdruck.
„Ich habe Sie schon beobachtet eine Weile.“ Er sprach mit einem leichten Akzent, den Steph nicht einordnen konnte. „Sie sehen aus sorgenvoll, aber wenn Sie in den Wald schauen, Ihre Gesichtszüge sind entspannt. Auf Island wachsen wir auf mit Elfen und Trollen. Keine Ahnung, ob sie existieren wirklich, aber sie geben mir ein gutes Gefühl. Die Natur ist ganz wichtig für uns Isländer. Sie ist mächtig und magisch. Wir Menschen können nicht erklären alles. Aber das ist nicht wichtig. In Schönheit liegt Magie. Und Magie macht unser Leben reicher und leichter. Nehmen Sie sich Zeit, wieder das Schöne zu lassen in Ihr Leben und vertrauen Sie“, fügte er hinzu. Der Mann schaute Steph direkt an. „Passen Sie auf auf sich. So, ich muss jetzt aussteigen.“ Und mit diesen Worten verschwand Stephs Sitznachbar in Richtung Ausstieg. An der Tür drehte er sich noch einmal zu ihr um und lächelte sie an, bevor er raus in den Schnee verschwand.
In ein paar Minuten hatte es dieser fremde Mann nur mit seiner Präsenz und seinen Worten geschafft, Steph ein Gefühl von innerer Ruhe und Geborgenheit zu geben. Sie beschloss spontan, eine Haltestelle früher auszusteigen und durch den Wald nach Hause zu laufen. Sie hatte LED-Kerzen für ihre Mutter gekauft, für deren neuen Adventskranz, nachdem diese ihren alten letztes Jahr angefackelt hatte. Eine andere Sache, die ihr Sorgen bereitete. Aber jetzt würde Steph erst einmal eine Kerze von ihrer Mutter anzünden und mit einem Licht durch den verschneiten Winterwald nach Hause gehen.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine wunderschöne Weihnachtszeit – Zeit, die ganz eigene Magie dieser besonderen Zeit zu entdecken – Zeit für das Schöne – ein Licht, das Ihnen Vertrauen schenkt und die Nähe von Menschen, die Ihnen guttun.